Buchbesprechung - Tchaikovskys Kinder, Erben oder Feinde der Zeit

Ist da ein kleinster gemeinsamer Nenner zu finden?

Diese Buchbesprechung fällt mir schwer. Seit zwei Wochen drücke ich mich nun schon davor. Warum nur? Sind Adrian Tchaikovskys Bücher über die Zeit wirklich so schwerer Stoff? Liegt es vielleicht daran, dass „Die Feinde der Zeit mich etwas ratlos zurückgelassen hat?
Ich benötige Muster und erkennbare Strukturen, um mich wohl zu fühlen. Nun ist jedoch jeder der drei Bände für sich genommen schon sehr unterschiedlich aufgebaut. Die verzweifelte Suche nach dem verbindenden Element dieser drei Bücher treibt mich noch in den Wahnsinn…

Bisher sind drei Romane in dieser Serie erschienen. In der Reihenfolge des Erscheinens sind dies


1.   Die Kinder der Zeit    – engl. Children of Time, 2018

2.   Die Erben der Zeit     – engl. Children of Ruin, 2019

3.   Die Feinde der Zeit   – engl. Children of Memory, 2022



Alleine die Übersetzung der Titel wirft neue Fragen auf. Der zweite und dritte Band hätten durchaus auch die Titel „Kinder des Untergangs“ und „Kinder der Erinnerung“ tragen können. Geht es also um Kinder oder, mit einer tieferen Bedeutung hinterlegt, um Nachfahren? Vielleicht lässt sich die Frage nach dem verbindenden Element der drei Romane aber doch nicht so einfach durch die Interpretation der Titel klären. Man muss doch etwas tiefer in die einzelnen Romane einsteigen, um die Gemeinsamkeiten aber auch die Unterschiede erkennen zu können.

 

Die Kinder der Zeit


Dr. Avrana Kern ist der geniale Geist, der nichts weniger als den Exodus der Menschheit von der Erde und die Ankunft auf neuen Heimatwelten vorbereitet. Kern’s Welt muss jedoch erst für die Ankunft der Menschen vorbereitet werden. Dazu werden Primaten auf dem neuen Planeten ausgesetzt. Die Affen sollen mittels eines genetischen Upliftings auf ihre Aufgabe als Hilfs-Terraformer besser vorbereitet werden. Dann geht jedoch etwas gewaltig schief. Avrana Kern’s Plan wird sabotiert und die Affen landen nicht auf der neuen Welt, wohl aber das Uplifting-Virus. Kern’s Welt wird von riesigen Spinnen bewohnt.

Avrana Kern umkreist ihre neue Welt in einem Satelliten. Noch vor ihrem natürlichen Ableben lädt Kern ihr Bewusstsein in den Computer des Raumschiffes hoch. Kern wird so unsterblich und kann nun den Jahrtausende dauernden Aufstieg einer Spinnenzivilisation auf ihrer Welt, auf Kern’s Welt, miterleben.

Menschen haben mittlerweile die sterbende Erde in riesigen Archeschiffen verlassen und machen sich auf den Weg, um die vermeintlich vor langer Zeit terraformierten Planeten zu besiedeln. Eine dieser Archen ist die Gilgamesch, die sich mit ihrer im Kälteschlaf befindlichen ‚Fracht‘ auf dem Weg zu Kern’s Welt befindet. Menschen und Spinnen werden unweigerlich aufeinandertreffen. Als Folge dieses Aufeinandertreffens entstehen die sog. Neu-Menschen, kurz N-Menschen, die keine Abscheu oder gar Angst vor Spinnen hegen. Ein Traum für alle Partner von Arachnophobikerinnen!
Und fortan erkunden Spinnen und N-Menschen das Weltall zusammen auf der Suche nach ihren gemeinsamen Wurzeln…


Insgesamt ist die Geschichte in sich geschlossen. Die beiden Handlungsstränge, Spinnenevolution und Annäherung der Gilgamesch, nähern sich im Reisverschlussverfahren einander an, zunächst in alternierenden Kapiteln und zuletzt in immer schneller wechselnden und kürzer werdenden Unterkapiteln. Dieses Muster ist eindeutig.


Übrigens, wer weiß, dass Gilgamesch ein König der Sumerer war? Das Gilgamesch-Epos gehört zu den ältesten überlieferten und schriftlich festgehaltenen Werken dichterischer Erzählung. Es handelt sich also um ein weit zurückreichendes Erbe der Menschheit. Ist das nur ein Hinweis oder bereits eine Deutung, die Tchaikovsky mit der Wahl dieses Namens erreichen möchte?


In der Spinnenzivilisation wird Wissen entweder durch Überlieferung oder durch sog. „Einsichten“ gesammelt. Diese „Einsichten“ sind nichts anderes als ein paar Tropfen DNA, die der Empfänger in sein Erbgut übernimmt und dann durch Fortpflanzung weiterverbreitet. Das Konzept der „Einsichten“ wird auch in den beiden Folgebänden zum Einsatz kommen. Hier ist es jedoch zunächst ein Hinweis darauf, dass auch wir Menschen über genetisch überlieferte „Einsichten“ verfügen, und wenn es nur die Abscheu vor Spinnen ist…


Spinnen bauen ihre Computer übrigens aus Ameisen auf. Die Parallelen sind kaum zu leugnen. Eine einzelne Ameise ist genauso dumm wie ein einzelner Transistor, oder sagen wir eine digitale Makrozelle. Nur im Verbund wird daraus eine leistungsfähige Rechenmaschine. Nette Idee, aber nicht zu Ende gedacht. Wo bleibt Moore’s Law und sind Mobiltelefone aus Ameisen nicht schrecklich unpraktisch? Nun, auch die Ameisen-Computer tauchen in den folgenden Bänden wieder auf, gereichen jedoch kaum zu einem roten Handlungsfaden.

„Die Kinder der Zeit“ ist ein toller SciFi-Roman, der nicht umsonst zum Bestseller wurde und für den Tchaikovsky sogar den Arthur C. Clarke Award erhalten hat. Großartige Unterhaltung, aber...


Aber was ist die tiefere Botschaft?
„Macht die Erde nicht kaputt, weil ihr sonst nach langer Zeit Spinnen toll findet!“?
„Wenn man nur lange genug wartet, dann wird am Ende alles gut.“?
„Typisch Mensch, typisch Spinne!“?

Nun, ich konnte diese Frage für mich nicht beantworten und musste auf die Fortsetzung dieses Epos hoffen.


 

Die Erben der Zeit


Kern’s Terraformer-Truppe bereitet auch Planeten in anderen Sonnensystemen auf eine Besiedlung durch die Menschen vor. In einem Sonnensystem sind sogar zwei Planeten terraformierbar. Einer davon ist Damaskus, eine Eiswelt, die sich jedoch in eine Wasserwelt umbauen lässt. (Damaskus ist auch eine Stadt im ehemaligen Sumerer-Reich, s.o.)
Analog zu den Affen aus dem ersten Band werden hier jedoch Cephalopoden als Hiwis eingesetzt, da diese an ein Leben Unterwasser angepasst sind und zu den intelligentesten Weichtieren gezählt werden. Prototyp der Cephalopoden-Zivilisation ist Krake Paul. (Krake Paul hatte ja schon 2010 die Ergebnisse der Fussball-WM vorhergesagt!)


Nach wenigen Zeilen glaubt man schon die Parallelen zur ersten Geschichte aus dem Tchaikovsky-Universum erahnen zu können. Es könnte langweilig werden, wenn da nicht noch der zweite Planet Nod wäre. (Nod ist übrigens in der Schöpfungsgeschichte ein Land östlich von Eden.)

Es existiert Leben auf Nod, vermeintlich einfaches Leben. Einzeller! Die Terraformer übersehen dabei jedoch, dass diese „dummen“ Einzeller zu etwas viel Größerem verbunden sind, zu dem, den gesamten Planeten umspannenden, Nod-Wesen. Dieses Nod-Wesen ist so ganz anders, als alles, was wir bisher kennen.

Die weiterentwickelte Cephalopoden-Zivilisation und das Nod-Wesen treffen irgendwann aufeinander. Damaskus wird vom Nod-Wesen übernommen. Die noch nicht infizierten Cephalopoden errichten ein Exil in einer Umlaufbahn um Damaskus.


In dieses Handlungsgemenge stolpert dann auch noch die KI Avrana Kern zusammen mit einer Mannschaft aus Spinnen und N-Menschen hinein. Es wird kompliziert…


Zuletzt wird doch alles wieder gut. Es bildet sich eine Gesellschaft aus Spinnen, N-Mensch und Kraken, und selbst das Nod-Wesen gehört dazu. Irgendwie schaffen es sogar ein paar Raben in den Epilog…


In „Die Erben der Zeit“ müssen insgesamt drei Erzählstränge zusammengeführt werden. Der Rhythmus ist dabei jedoch nicht ganz so melodisch wie im ersten Teil. Man muss lange warten bis sich ein konsistentes Handlungsgefüge erkennen lässt. Manchmal muss man sogar zurückblättern, um das notwendige Vorwissen zu wiederholen. Die Monologe des Nod-Wesens wirken z.T. etwas verloren, weil man erst ganz zuletzt das Wesen des Nod-Wesens begreifen kann. Ohne diese Vorstellung von einem Nod-Wesen erscheinen die Gedankenmonologe dann doch manchmal etwas seltsam. (Nun gut, ich finde sowieso sämtliche Wesen, die im Pluralis Majestatis sprechen, sehr seltsam.)


Und was bleibt? Nun, die Kommunikation mit Kraken ist offensichtlich sehr schwierig. Nur Cephalopoden sind aufgrund ihrer neuronalen Struktur dazu in der Lage, Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit zu ermöglichen. Und wenn ich mal eine sehr gute Kopie von mir benötigen würde, dann könnte ich dafür den Nod-Organismus bemühen. (Vielleicht schicke ich den am Montag ins Büro! Vielleicht haben meine Kollegen das auch schon getan? Uah!)


Und hat sich jetzt eine weitergehende, tiefere Botschaft ergeben? Nein, nicht für mich. „Die Erben der Zeit“ ist solide SciFi, bleibt jedoch hinter „Die Kinder der Zeit“ deutlich zurück. Tchaikovsky versucht hier „mit zu vielen Bällen zu jonglieren“. Zu viele neue Konzepte sollen hier berücksichtigt werden und alles muss auch noch abwärtskompatibel zum ersten Teil sein. SciFi muss nicht zwingend über eine Kernbotschaft verfügen. Eine Kernbotschaft trennt jedoch hervorragende SciFi von guter Unterhaltung. Im dritten Teil kann es also besser werden oder schlechter…

 

Die Feinde der Zeit


Auf den dritten Band, und hoffentlich ein paar Antworten, musste ich lange warten. Die deutsche Übersetzung ist erst Mitte 2023 erschienen. Vor zwei Wochen habe ich die erste Lesung beendet und hadere seitdem damit. Der deutsche Titel ist völlig daneben…


Die Arche Enkidu nähert sich dem vermeintlich terraformten Planeten Imir an. (Btw, Enkidu ist ein Kumpel des Sumerer-Königs Gilgamesh. Imir ist eine Kleinstadt in Persien.) Besatzung und „Fracht“ der Enkidu besiedeln Imir mehr schlecht als recht. Eine KI-Abspaltung von Avrana Kern zusammen mit einer z.T. aus Nod-Wesen geklonten Mannschaft erforscht Imir. Das Besatzungsmitglied Miranda hat das Bedürfnis die Menschen auf Imir, in ihrem verzweifelten Versuch den Planeten urbar zu machen, zur Hilfe zu kommen.


Belassen wir es bei dieser kurzen Zusammenfassung der Handlung.


Wieder springt Tchaikovsky in seiner Erzählung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, vermeintlicher Gegenwart, hin und her. Spätestens als einige der Protagonisten in der Mitte des Buches ums Leben kommen, um dann zwei Kapitel später erneut aufzutauchen, wird klar, dass Tchaikovsky mit einem neuen Konzept spielt. Die eine Hälfte der Erzählung verläuft linear, die andere Hälfte durchläuft nur nahezu identische, sich wiederholende Schleifen. Man ahnt, dass etwas nicht stimmt.


Der dritte Teil ist tatsächlich anders als die Vorgänger. Wenigstens werden keine neuen Arten oder Wesen eingeführt. Zuletzt wird sogar die große Frage berührt, was denn eigentlich Realität ist. Woran erkennt man, ob man sich in einer Simulation oder in der Realität befindet? Ist gar die Realität, also das, was wir dafür halten, nicht schon die Simulation eines höheren Wesens? Ist es darüber hinaus legitim, einer simulierten, ausgedachten Person einen Übergang in die Realität zu erlauben? Das ist alles sehr tiefsinnig. Ich hätte mir nur gerne die verwirrenden 450 Seiten Vorspann dazu gerne erspart, zumal ich den Antworten auf diese Fragen nicht einen Deut näher gekommen bin.


„Die Feinde der Zeit“ hat mich deutlich weniger berührt als die ersten beiden Romane. Die Erzählung wirkt unstrukturiert. Lesepausen (auch Arbeit genannt) erschweren es dem Leser der Handlung zu folgen. Diese SciFi ist nicht einmal besonders unterhaltsam. Der Impuls „ich muss wissen, wie es weitergeht“ ist mehr als oft völlig ausgeblieben. Dieses Mal fehlt sogar der Spass am Weiterlesen und damit wohl auch die Unterhaltung. Als Tchaikovsky ganz zuletzt sogar die Tür zu einem möglichen vierten Teil der Trilogie (kleiner Scherz, ich weiß doch, dass eine Trilogie ein Musikinstrument ist) aufstößt, fliegt das Buch in die Ecke…

Tchaikovsky ist unbestreitbar ein Genie. Aber oft bleiben Genies eben auch unverstanden.

 


Unter dem Strich


Weder Zeit noch Kinder, Erben oder Feinde sind ein echtes Bindeglied zwischen diesen drei Romanen, auch wenn einen das der jeweilige Einband der drei Romane und deren Titel – im Deutschen wie im Englischen - nahelegen möchten. Man könnte alle drei Bücher unabhängig voneinander lesen und verstehen. Wiederkehrende Elemente oder Personen sind ein Gimmick.

Das Einzige, was konstant bleibt, ist die Abnahme des Unterhaltungswertes und das Erschlaffen des Spannungsbogens.

I’m done with either children or time, Mr. Tchaikovsky.

 

Der zweite Teil von Tchaikovskys Architekten-Trilogie wartet schon in meinem Regal. Hoffentlich werde ich nicht bitter enttäuscht…

Zing • 17. Februar 2024