Mitte der 90er Jahre fiel mir ein Buch in die Hände: "Besser Fotografieren - Stadt- und Architekturfotografie", erschienen im Time-Life Verlag. Das sehr technisch orientierte Kapitel über die Verwendung von Shift-Objektiven und verschwenkbaren Objektiven hat mich sofort in den Bann gezogen. Wenn man zu dieser Zeit dann, in den 90ern, in ein Fotofachgechäft gegangen ist, um sich nach dem Preis solcher Spezialobjektive zu erkundigen, hat sich die Begeisterung schnell wieder gelegt. Tilt-/Shift-Objektive waren nur etwas für Profis (und man musste zudem über das richtige Kamerasystem verfügen).


Dann kam 2020 die Corona-Pandemie und man konnte viel Zeit im Internet verbringen. Dabei hat mich meine Blase dann zum youtube-Kanal von Keith Cooper, Northlight Images gelenkt. Plötzlich waren Tilt-/Shift-Objektive wieder präsent. Tilt-/Shift-Objektive sind auch heute immer noch teuer und selten, aber das Angebot ist zumindest seit den 90ern gewachsen. Und dann hat Keith Cooper die Tilt-/Shift-Adapter von fotodiox vorgestellt. Mit diesen Tilt-/Shift-Adaptern wird es möglich z.B. Vintage-Objektive mit einer Shift- und Tilt-Funktion aufzurüsten und an einer spiegellosen Systemkamera (DSLM) zu verwenden.


Mein Tilt-/Shift-Abenteuer beginnt endlich im Mai 2023 und was man daraus lernen kann, steht in dieser Sonderausgabe der zinglogs.

I.   Motivation und die Lösung Tilt-/Shift-Adapter

Manchmal möchte man ein Gebäude (oder einen hohen Berg fotografieren) und bekommt es einfach nicht vollständig aufs Bild. Man steht nah vor dem Objekt, kann nicht weiter zurücktreten und mehr Weitwinkelobjektiv ist auch nicht verfügbar. In unserer Not schwenken wir Fotografen dann die Kamera samt Objektiv nach oben, um das Hochhaus komplett ins Bild zu bekommen. Was ist das Ergbnis? Es erscheint uns, als würde das Gebäude nach hinten umstürzen. Die vertikalen Linien des Motivs sind nicht mehr länger parallel zueinander. Manchmal lassen sich solche stürzenden Linien zwar noch als "besonderer" Effekt in die Bildgestaltung miteinbeziehen, meist wirkt so ein gekipptes Bild jedoch eher halbherzig ausgeführt und schlecht gemacht.

Man kann stürzende Linien während der Nachbearbeitung am Computer bis zu einem gewissen Maß korrigieren, so wie hier unten am Bild des Doms zu Helsinki gezeigt. Auf den ersten Blick ist das Problem damit gelöst. Allerdings wird der obere Bildrand gestreckt und als Ergebnis davon ist die Auflösung am oberen Bildrand geringer als am unteren (weniger Pixel auf der gleichen Strecke). Nicht nur die Detailauflösung ist zum oberen Bildrand hin geringer geworden, auch die Abbildungsfehler der Optik wie z.B. purple fringing treten dort nun deutlicher hervor.

Oh, und man muss bei einer geplanten Korrektur der perspektivischen Verzerrung am Computer einkalkulieren, dass in den überflüssigen Ecken keine bildwichtigen Elemente enthalten sein sollteen. Der Verlust von blauem Himmel ist verschmerzbar, aber man stelle sich nur vor, rechts von dem Dom würde noch eine Laterne oder Siegessäule stehen. Die wäre nach der Korrektur am Rechner möglicherweise im ausgeblendeten Bereich verschwunden.

Man muss das Problem tatsächlich bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme lösen, und da kommen Shift-Objektive ins Spiel! Idealerweise adaptiert man dazu ein Objektiv mit einem mehr als notwendig großen Bildkreis an eine Kamera mit einem deutlich kleineren Sensor. In meinem Fall werden z.B. alte MINOLTA-Vollformatobjektive an einer Kamera mit APS-C-Sensor verwendet. Um den Dom aufzurichten, benötigen wir zunächst nur die Shift-Funktion. Aber wie funktioniert Shift dann genau?

II. Wie funktioniert ein Shift-Objektiv?

Tilt ist ein ganz anderes Thema. Wir benötigen tilt nicht, um stürzenden Linien zu vermeiden. Beschränken wir uns daher zunächst auf den Einsatz von shift und sprechen der Einfachheit halber auch vom Shift-Objektiv.


Bei shift geht es im Kern zunächst darum, dass ein Objektiv ein größeres Bild abliefert, als für die eigentliche Aufnahme später benötigt wird. Dann wird der Sensor solange innerhalb des vergrößerten Bildkreises verschoben - geshifted, bis das eigentliche Objekt vollständig auf dem Sensor abgebildet wird.


Damit es auf keinen Fall zu stürzenden Linien kommt, muss die Kamera während des gesamten Prozesses horizontal ausgerichtet sein. Der Normalenvektor steht auf dem Mittelpunkt der Sensorfläche und deutet auf den zentralen Fluchtpunkt kurz über dem Horizont. Wenngleich moderne Digitalkameras über ausgefeilte digitale Wasserwaagen verfügen, empfiehlt sich dennoch gerade zum Einstieg in die Fotografie mit Shift-Objektiven der Einsatz eines Stativs. Man kann dann in aller Ruhe die Kamera ausrichten und beobachten, wie sich shift auswirkt.

Im Bild unten erkennt man, was bei shift nun tatsächlich geschieht. Das Gebäude befindet sich im großzügig dimensionierten Bildkreis des horizontal ausgerichteten Objektivs. Man muss nun lediglich noch den Sensor im Bildkreis nach oben bewegen (rechtes Bild) und schon erhält man eine Abbildung des gesamten Gebäudes ohne stürzende Linien.

Was wird tatsächlich verschoben? Ist es z.B. die Optik nach oben oder doch der Sensor nach unten? Ist das nicht das Gleiche? In Bezug auf was wird hier eigentlich geshifted? Davon handelt der folgende Abschnitt.

Ausgehend vom Grundzustand (1) muss erreicht werden, dass das Abbild des Bildgegenstandes vollständig von Bildebene (dem Sensor) erfasst wird. Naheliegend ist nun, dass man den Sensor dazu nach unten schiebt (2).

Dazu müsste die gesamte Anordnung an der abbildenden Optik fixiert werden. Einige Hersteller (Laowa, Rogetti) bieten dazu z.B. entsprechende Adapter an, mit denen man das Objektiv an den Stativkopf anschließen kann. Die Stativschelle von FUJIFILMs GF 30mm T/S umfasst das Objektiv nicht am Bajonett, sondern weiter vorne vor dem tilt/shift-Mechanismus. Auch hier kann man den Bildsensor nach unten schieben. Trotzdem spricht man auch in diesem Fall von shift up.


Der Grund dafür ist einfach. Normalerweise wird das Kameragehäuse  am Stativ befestigt und nun das Objektiv relativ zum Kameragehäuse "up geshiftet" (3). Das Ergbnis ist jedoch gleichwertig. Wieder wird die gesamte Ansicht des Gebäudes vom Sensor erfasst.


I.a.R. beschreibt man bei shift die Verschiebung der Optik gegenüber dem Kameragehäuse bzw. dem Sensor: shift up, shift down, shift right, shift left. Diagonal shift ist natürlich ebenso möglich, und in manchen Situationen sogar erforderlich.

Ausgestattet mit dem Wissen um die Vermeidung perspektivischer Verzerrung durch ein Shift-Objektiv, kann man nun bereits in die aufregende Welt der Architekturfotografie aufbrechen. Allerdings ist das technische Verständnis nur die halbe Miete. Mir stand bei den ersten Gehversuchen z.B. nur ein tilt-/shift-adaptiertes MINOLTA MD 24-35mm Zoomobjektiv zur Verfügung. Am APS-C-Sensor entsprechen 24mm Brennweite dem Kleinbildäquivalent von 36mm. 36mm klingt noch nach Weitwinkelobjektiv, ist jedoch für die meisten Anwendungen und Situationen bereits zu lang. Beim nebnstehenden Bild (rechts) war es u.a. nicht möglich die sog. Zentralperspektive einzunehmen. Entweder war die Sicht zur Gebäudefront verstellt (Bäume) oder aber man konnte aufgrund der benachbarten Gebäude nicht weiter zurückgehen. Ebenso war es nicht möglich, das Umfeld des Gebäudes einzubeziehen; Bildränder und Gebäudekanten liegen zu nah beieinander. Ein 16mm-Objektiv bzw. das 24mm-KB-Äquivalent hätten hier für mehr Bewegungs-freiheit gesorgt.


Wer Tilt-/Shift-Objektive benutzt, der möchte in der späteren Nachbearbeitung natürlich so wenig wie möglich die Bildkomposition korrigieren. Hier hätte man dem Gebäude durch Einsatz von KI natürlich rechts und links mehr "Luft zum Atmen" verschaffen können.


Eine andere Möglichkeit zur "Rettung" der Aufnahme durch Nachbearbeitung wäre die nachträgliche Veränderung des Seitenverhältnisses von ursprünglich 1:1,5 auf 1:1,4 (stretch it out) gewesen. Das ist jedoch oft problematisch, sofern Gegenstände mit bekannten Proportionen (z.B. Autos) oder Personen Teil des Bildes sind.


Verwende ein Stativ!

Zumindest zu Beginn sollte das beherzigt werden. Nur durch den Einsatz des Stativs gelingt es die Kamera horizon-tal auszurichten. Man kann dann den Einfluss von shift auf die Abbildung beobachten und genauer festlegen. Die Verwendung eines Stativs führt auch dazu, dass man den Auslöser erst dann betätigt, wenn die Bildkomposition stimmt. Bei der freihändigen Arbeit kann das zwar auch gelingen, aber das Erlernen der richtigen Bildgestaltung wird durch dieses erratisches Herumgeknipse unmöglich.


Daher sollten Anfänger in der Fotografie mit Tilt-/Shift-Objektiven zunächst immer mit dem Stativ arbeiten.

Es geht auch ohne Stativ!


Manchmal hat man ein Tilt-/Shift-Objektiv dabei, aber kein Staiv zur Hand. Während des Helsinki-Trips im März 2024 war das der Fall. Aber die verwendete FUJIFILM X-T3 verfügt über eine digitale Wasserwaage, so dass die horizontale Ausrichtung der Kamera auch ohne Stativ möglich war. So gelingen mit etwas Übung auch freihändige Aufnahmen mit shift.


Das ist jedoch nicht die ganze Wahrheit. Zum einen sind die digitalen Wasserwaagen der meisten Kameras lediglich "Schätzeisen". 1° Verkippung klingt zunächst nicht dramatisch. Gerade bei sehr symmetrischen Objekten mit zahlreichen rechten Winkeln - wie eben Gebäuden - fällt eine Verkippung von nur 0,5° bereits unangenehm auf. Eine Nachträglichen Korrektur wird erforderlich.

Zum anderen können die wenigsten Fotografen die Kamera absolut stabil halten. Alleine schon durch das Betätigen des Auslösers übt man ein Drehmoment auf das Kameragehäuse aus.


Das Bild links zeigt den Dom von Helsinki. Es wurde mit einem 24mm shift-adaptierten Objektiv aufgenommen. Die Brennweite war leider schon zu lang, um die Zentralperspektive herstellen zu können (außer, ich hätte mich in das Denkmal von Zar Alexander II. gemorpht). Und die umfangreiche Nachbearbeitung zur Auflösung der Verkippung im Moment des Auslösens sieht man

dem Bild auch nicht an. Deshalb nochmal der eindringliche Hinweis: Verwende ein Stativ, wenn die Fotografie mit dem Tilt-/Shift-Objektiv eine Erfolgsgeschichte werden soll.

III. Panorama und Mosaik mit Shift-Objektiven

Wie erzeugt man üblicherweise ein Panorama oder ein Mosaik? Nun, die einfachste Art zu einem Panorama zu gelangen ist, die Kamera samt Objektiv entlang des Horizonts zu schwenken und dabei eine Reihe sich überlappender Aufnahmen anzufertigen. Das geht auch mit einem Eifon. Bei einem Mosaik wird es schon anspruchsvoller. Das Prizip bleibt jedoch erhalten: Kamera und Objektiv verschwenken.

Mit einem Shift-Objektiv ergeben sich jedoch weitere Möglichkeiten zur Erstellung von Panoramen, vertikalen Panoramen und Mosaiks. Zur Erstellung eines Panoramas wird z.B. das Kameragehäuse raumstabil aufgestellt und lediglich das Objektiv für eine Aufnahme nach links und für die zweite Aufnahme nach rechts geshifted. Das Zusammenfügen der beiden Einzelbilder übernimmt dann der Rechner (siehe Grafiken unterhalb).

Das klingt einfach, nicht wahr? Und doch kann man hier Fehler machen! Einige Lehren und Erfahrungen aus meinen ersten Versuchen, Panoramas oder Mosaiks zu erstellen:

1. Zwischen den Aufnahmen kann sich die natürliche Beleuchtung geringfügig ändern oder man erhält je nach shift unterschiedliche Messergebnisse. Meine Schlussfolgerung daraus ist, ausschließlich mit manuellem Belichtungsmodus zu arbeiten, um konsistente Einzelaufnahmen zu erhalten. Beim Zusammenfügen der Einzelaufnahmen kann der Algorithmus nämlich Belichtungsunterschiede in der Größenordnung von >1EV nicht mehr kompensieren.

2. Der Weißabgleich  ist die nächste Falle. Die Aufnahme des Palace-Hotels in Helsinki entstand aus zwei Einzelaufnahmen, bei denen der Weißabgleich auf Auto eingestellt war. Da sich die Farbtemperatur zwischen den beiden Aufnahmen geringfügig verändert hatte, ist nun trotz erheblicher Nachbearbeitung immer noch ein geringfügiger Unterschied zwischen den beiden Bildhälften des Panoramas erkennbar: Die linke Seite ist wärmer.

Ich habe infolgedessen mit Voreinstellungen wie Tageslicht, Bewölkter Himmel oder Schatten experimentiert, aber auch diese variieren den Weißabgleich zwischen meheren Aufnahmen immer noch minimal. Die sicherste Lösung, die zu Einzelaufnahmen mit untereinander konsistenten Ergebnisse führt, ist die Einstellung einer Farbtemperatur, z.B. 5600K für Aufnahmen bei Tageslischt.

3. Das Panorama des Palace-Hotels in Helsinki weist noch eine weitere Unzulänglichkeit auf. Die beiden Einzelbilder sind JPEGs. Bei diesen Bildern war das digitale Korn (grain weak) aktiviert. Gerade im an sich strukturlosen Himmel hat Photoshop dann beim Stichen der beiden Aufnahmen eine unschöne "Naht" aufgrund der digitalen Körnung hinterlassen. Wenn also schon JPEG, dann bitte ohne  grain  aus der Kamera!

Manchmal genügt ein Panorama nicht, so wie hier bei dem Bild der Uspenski-Kathedrale in Helsinki. Für dieses Bild wurden zunächst vier Einzelaufnahmen angefertigt, und zwar ohne Unterstützung durch ein Stativ. Die untere Bildhälfte besteht aus zwei Bildern, die jeweils horizontal nach links und rechts geshifted wurden. Für die oberen beiden Bilder wurde einmal diagonal nach links oben geshifted und dann diagonal nach rechts oben.

In der Bildmitte würden sich  später also die Ecken der vier Einzaufnahmen treffen. Da die Abbildungsleistung von Objektiven i.a.R. in den Ecken gegenüber der Bildmitte reduziert ist, überkam mich ein mulmiges Gefühl. Zur Sicherheit fertigte ich noch eine fünfte Aufnahme an, die ausschließlich die spätere Bildmitte des zusammengesetzten Mosaiks erfasst.

Das Ergebnis spricht für sich selbst. Daraus lässt sich eine vierte Regel ableiten:

4. Mach immer auch ein Bild von der späteren Bildmitte des Mosaiks oder Panoramas! Ein Panorama sollte also immer aus mindestens drei Aufnahmen zusammengesetzt werden: den beiden geshifteten Bildern und einem ohne shift. Bei Mosaiken versuche ich nun immer ein zusätzliches Bild für jeden Überlappungspunkt mehrerer Einzelaufnahmen aufzunehmen.


Angesichts des Aufwandes für so ein Panorama oder Mosaik könnte man nun argumentieren, dass man doch einfach weiter zurückgehen oder auf eine kürzere Brennweite zurückgreifen könnte, um das Ziel mit einer einzigen Aufnahme zu erreichen. Demgegenüber steht jedoch, dass solche zusammengesetzten Bilder mit längerer Brennweite und somit höherer Auflösung versehen sind. Zusammengesetzte Bilder verfügen über mehr Pixel als eine Einzelaufnahme, lassen sich also später auch höher vergrößern bzw. größer ausdrucken. Der Aufwand lohnt sich also!


Bisher ging es bei den Ausführungen über die Verwendung von Shift-Objektiven um Häuser, Bauwerke und Kirchen, also um von Menschenhand geschaffene Objekte. Kann man Shift-Objektive auch für andere Motive verwenden?

IV. Shift-Objektive außerhalb der Architekturfotografie

Tilt-/Shift-Objektive werden im Allgemeinen in der Architekturfotografie eingesetzt! Ist das so? Nein, nicht unbedingt. Die frühen Fotoapparate, meist waren das Großformatkameras mit Platten und Balgen, verfügten über die Möglichkeit, das Objektiv gegenüber der Filmebene zu verschieben und zu verschwenken. Und mit eben jenen "Kameras der ersten Stunde" wurden gewiss nicht alleine Kirchen und andere Bauwerke fotografiert. Insbesondere Landschaftsfotografen wie z.B. Ansel Adams nutzten Tilt und Shift ganz bewusst für ihre Zwecke.

Die stürzenden Linien von Wolkenkratzern finden in der Landschaftsfotografie ihr Pendant in "stürzenden Bäumen", und genau die lassen sich mit einem Shift-Objektiv schon zum Zeitpunkt der Aufnahme wieder aufrichten.

Einen weiteren Shift-Effekt habe ich dann eher zufällig entdeckt. Man kann mit einem Shift-Objektiv die Gewichtung zwischen Vordergrund und Hintergrund beeinflussen. Objekte am Rand in Richtung der Verschiebung werden größer abgebildet und gewinnen so mehr Bedeutung als z.B. ein eher uninteressanter Vordergrund. Man sehe nur einmal einem engagierten Großformatfotografen bei der Arbeit zu. Bei sehr vielen Gelegenheiten wird das Objektiv grundsätzlich ein wenig nach oben verschoben!

Berge sind eigentlich auch nichts anderes als Wolkenkratzer! Als solches lohnt sich deshalb schon der Einsatz von Shift-Objektiven, wenn man Berge von einem tiefen Standpunkt aus fotografiert.

Naheliegend ist natürlich auch, ein Shift-Objektiv für die Anfertigung von Panoramen, vertikal oder horizontal, einzusetzen.


Links kann man z.B. ein vertikales Panorama der Laliderer Spitze im Karwendel mit ihrer berühmten und berüchtigten Herzogkante betrachten. Das zusmmengesetzte Original verfügt über eine Auflösung von 36 Megapixel und zeigt den steilen Grat nahezu ohne Verzerrungen. Durch den Einsatz eines tilt-/shift-adaptierten Vollformatobjektivs konnte dieses Ergebnis mit lediglich einer APS-C-Kamera (X-T20, 24 MP) erzielt werden. So wird die Bereitstellung von Fotografien als Grundlage für Topos zu einer "leichten" Übung.



Diagonaler shift kann eingesetzt werden, um die Bildkomposition zu beeinflussen und den Blick des Betrachters später gezielt zu lenken. Diesbezüglich habe ich selber leider noch nicht viel Erfahrung sammeln können (mangels Gelegenheit), aber Keith Cooper erklärt das in diesem Video sehr anschaulich.










So weit zu shift! Es ist Zeit für eine kleine Zusammenfassung.

V. Zusammenfassung Shift-Objektive

Die shift-Funktion beeinflusst die perspektivische Verzerrung und erlaubt die Korrektur stürzender Linien bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme. So kann die volle Auflösung des Sensors genutzt werden.

Die Kombination mehrerer geshifteter Aufnahmen zu einem Panorama oder Mosaik ermöglicht Endergebnisse mit hoher Auflösung, die viele Details enthüllen und für eine großflächige Präsentation geeignet sind.

Shift ist nicht allein eine Domäne der Architekturfotografie. Auch in anderen Generes der Fotografie lassen sich zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten entdecken.


Und was ist jetzt mit tilt?

VI. Wie funktioniert ein Tilt-Objektiv?


Mit shift wurde es mir möglich, ca. 99% aller Aufgabenstellungen in der Architektur- und Landschaftsfotografie zu lösen. Warum in aller Welt sollte ich nun aber das Objektiv verschwenken? Sucht man im Internet nach Tilt-Objektiven, dann findet man oftmals als Anwendungsvorschlag den Miniatureffekt. Das erschien mir jedoch wenig hilfreich, weil 1.) der Miniatureffekt als intergrierte Funktion in den meisten Kameras vorhanden ist und dann mit ganz normalen Objektiven realisiert wird und weil 2.) dieser simple Effekt kaum die Anschaffung teurer Tilt-Objektive rechtfertigt.


Hinter dem Schwenken eines Objektivs muss sich mehr Sinn und Zweck verbergen, als etwas, das man auch mit einem Computer erreichen kann. Es ist an der Zeit das Schwenken von Objektiven genauer zu untersuchen. Und weil es viel cooler ist, reden wir im Folgenden auch nicht mehr von Schwenken oder Verschwenken, sondern von tilt!


Was also geschieht bei tilt? Dazu muss man zunächst einmal erklären, was ohne tilt passiert. Klingt komisch, ist aber so...

Ohne tilt sind die scharf abgebildete Objektebene (plane of focus) und die Bildebene (image plane) parallel zueinander ausgerichtet. Gegenstände, die sich vor oder hinter der Objektebene befinden, werden hingegen unscharf abgebildet. Dem kann man durch Abblenden des Objektivs entgegenwirken, so dass auch Objekte vor und hinter der Objektebene schärfer dargestellt werden. Allerdings sind dem "Aufblähen" des Schärfebereichs Grenzen gesetzt. Je länger die Brennweite des Objektivs ist, desto geringer wird die durch Abblenden erzielbare Schärfentiefe (und wenn jetzt einer 'Tiefenschärfe' sagt, dann schick ich ihn persönlich mit dem Pfefferstreuer an die tiefste Stelle des Pazifik). Ein weiterer Aspekt ist die Tatsache, dass, bedingt durch immer hochauflösendere Sensoren, Beugung immer früher eintritt. An APS-C-Kameras der 40MP-Klasse kann man höchstens noch auf Blende 8 abblenden, da sonst die Beugungsunschärfe Überhand über den Gewinn an Schärfentiefe erlangt.


Wer nun alles von den 50 cm entfernten Mageriten im Vordergrund bei Starnberg bis zum Gipfel der Zugspitze  scharf auf einem Foto abbilden möchte, der kommt bei Einsatz eines 100mm Objektivs und Abblenden auf Blende 11 kaum zum gewünschten Ergebnis. Wie praktisch wäre es nun, wenn man die plane of focus so verlagern könnte, dass die Mageriten und der Zugspitzgipfel beide darin zu liegen kommen?


Genau das erreicht man durch tilt! Ein tilt des Objektivs um den Winkel theta führt zu einem tilt der plane of focus um den Winkel psi. Objektebene, Objektivebene und Bildebene schneiden sich dann in S.

Es ist sogar möglich die plane of focus so weit zu tilten, dass diese senkrecht auf der Bildebene steht (psi=90°). In diesem Fall lässt sich der dafür erfoderliche tilt-Winkel theta lediglich aus der Brennweite f des Objektivs und dem Abstand J zwischen der Flächennormalen des Bildsensors und der Objektebene bestimmen.

Das Ergebnis dieser Berechnung ist in der Tabelle unten dargestellt. Streng genommen gilt dieses Ergebnis jedoch ausschließlich für Objektive, die auf unendlich eingestellt sind. Makrofotografen wittern jetzt möglicherweise ihre Chance. Leider ist dem nicht so. Je kleiner das Verhältnis zwischen Gegenstandsweite g und Brennweite f bei konstantem tilt theta wird, desto mehr nimmt auch der Winkel psi ab. Im Nahbereich (g/f = ~2) lässt sich die plane of focus nur noch um das Doppelte des tilt-Winkels neigen (psi = ~2 theta).

Noch einmal zurück zur nebenstehenden Tabelle. Die Darstellung des tilt-Winkels bis auf eine Nachkommastelle könnte den Eindruck erwecken, dass es bei tilt auf hohe Genauigkeit ankommt. Der T/S-Adapter von Fotodiox lässt jedoch die Ablesung des eingestellten tilt-Winkels nur bis zur Genauigkeit von einem 1° zu. Fanatiker könnten darauf pochen, dass die Schrittweite des dargestellten Abstands J weiter zu verringern sei.

Alles Blödsinn! Die Werte in der Tabelle sollen lediglich einen Anhalt liefern. J lässt sich in der Praxis auf ca. 5 cm genau abschätzen. Die Vorwahl des tilt-Winkels mit einer Genauigkeit von 1° ist als Ausgangspunkt völlig ausreichend.

Hat man die Kameraanordnung erst einmal so aufgestellt (Leute, benutzt ein Stativ!), dann lässt sich die Feinjustierung mit Hilfe von focus peaking leicht bewerkstelligen. tilt lässt sich leichter durch das Sammeln von Erfahrung erschließen als durch "verkopfte" Mathematik. 

VII. Wofür braucht man ein Tilt-Objektiv?

Sich wiederholende Muster, die mit wachsender Entfernung immer kleiner werden, vermitteln räumliche Tiefe in einem an sich zweidimensionalen Bild. Unterstützt wird diese Bildgestaltungstechnik noch dadurch, dass die Elemente eines solchen Musters gänzlich scharf abgebildet werden. In den beiden Bildern unterhalb ging es genau um eben diesen Effekt. Das Bild links - ohne tilt - vermag kaum einen räumlichen Eindruck vermitteln. Die Objektebene wirkt wahrlos positioniert. Das dabei verwendete 50mm-Objektiv entspricht an einer APS-C-Kamera bereits einem leichten Portraittele mit 75mm Äquivalentbrennweite. Weiteres Abblenden war keine Option. Die Lösung, wie im Bild rechts gezeigt: Das Objektiv wird um ca. 5° nach unten geschwenkt. Das sich wiederholende Muster aus Eisenbahnschwellen und Muttern wird dann von 50 cm bis unendlich scharf abgebildet, und das bei einer eingestellten Blende 2,8!

Tilt funktioniert natürlich auch in seitlicher Richtung. Das belegen die beiden Bilder des "Handlaufs am Geländer" unten. Technisch ist seitlicher tilt leicht erklärt. Der tilt-Mechanismus des (adaptierten) Objektivs lässt sich um die optische Achse rotieren. Man kann also nach unten, oben, rechts oder links tilten, oder sogar diagonal.

Seitlicher tilt erfordert bei der Bildgestaltung jedoch etwas Aufmerksamkeit. Objekte auf der in tilt-Richtung entgegengesetzten Seite werden mehr oder weniger unscharf abgebildet. Bei tilt nach unten wird z.B. der Himmel unscharf dargestellt. Das ist zu verschmerzen. Bei seitlichem tilt könnte das Bildergebnis demgegenüber unausgewogen oder seltsam erscheinen, wenn z.B. die linke Bildhälfte eine scharfe Abbildung zeigt, während der rechte Bildteil völlig verschwommen ist.

Tilt ist eine Errungenschaft, die bereits seit der Zeit der Plattenkameras bekannt ist. Bei großen Negativen (4"x5" oder 8"x10") ist ein 150mm-Objektiv bereits ein Normal- bzw. Weitwinkel-objektiv. Selbst Abblenden auf f/32 oder sogar die berühmten f/64 genügte dann oft nicht mehr, um in der Landschaftsfotografie eine scharfe Abbildung vom Vordergrund bis zum Horizont zu erzielen.

Im Abschnitt über shift hatte ich bereits erwähnt, dass Großformatfotografen gerne ihren Objektiv-träger nach oben verschieben, um dem Hintergrund mehr Bedeutung zu verleihen. Gleichzeitig schwenken Großformatfotografen ihr Objektiv ein wenig nach unten, um mit weiter geöffneter Blende arbeiten zu können und trotzdem eine scharfe Abbildung vom Vordergrund bis zu den "Rocky Mountains" zu erzielen. Ansel Adams war ein Meister dieser Technik.


Aus dem zuvor gesagten lässt sich eine Empfehlung für den Einsatz von Tilt/Shift-Ob-jektiven ableiten. Shift lässt sich bei allen Brennweiten gut einsetzen, wird aber besonders dann zum entscheidenden Faktor, wenn stürzende Linien allgegenwärtig werden: Beim Einsatz von Weitwinkelobjektiven! So gibt es denn auch Hersteller, die ihre 20mm-Weitwinkelobjektive lediglich mit shift ausstatten. Die erforderliche Schärfentiefe wird bei so kurzen Brennweiten einfach durch Abblenden hergestellt.

Tilt ist hingegen dann interessant, wenn Abblenden nicht mehr ausreichend ist, um eine ausreichende Schärfentiefe zu erzielen. Das ist bei Objektiven ab bereits einer Brennweite von ca. 35 mm der Fall.

Kritiker könnten jetzt entgegenhalten, dass es doch das 17 mm TS-E von Canon gibt. Stimmt, aber vermutlich nur deshalb, weil Canon einfach den vor-handenen Tilt-/Shift-Mechanismus aus wirtschaft-lichen Gründen von den langen Objektiven kopiert hat. Warum auch sollte man das für jede Brenn-weite neu erfinden?


Ach ja, auch tilt ist keine Technik, die nur in der Architekturfotografie Anwendung finden muss. Landschafts-, Makro-, ja sogar die Portraitfotografie können von tilt profitieren.


"Das kann man heutzutage alles am Computer erreichen. Da braucht es keinen tilt", mag jetzt einer/eine/eines sagen. Das mag in der Makrofotgrafie vielleicht zutreffen, aber ob focus stacking bei einem 100mm-Objektiv im Bereich von 1 m bis unendlich noch effizient und zu Lebzeiten des Fotografen möglich ist, wage ich zu bezweifeln. Wenn die Optik dann noch unter focus breathing leidet, wird es auch für den Computer schwierig...

VIII. Zusammenfassung Tilt-Objektive

Mit der tilt-Funktion lässt sich die Lage der scharf abzubildenden Objektebene (plane of focus) beeinflussen. Das ist besonders dann entscheidend, wenn eine ausreichende Schärfetiefe nicht mehr durch weiteres Abblenden des Objektivs erreicht werden kann. Tilt kommt daher öfter bei Brennweiten oberhalb von 35 mm zum Einsatz.
Tilt lässt sich in vielen Generes der Fotografie einsetzen. In der Makrofotografie sollte man bedenken, dass der tilt-Effekt bei geringen Entfernungen zum Objekt geringer ausfällt.

Seitlicher tilt erfordert einen sorgfältigen Aufbau der Bildkomposition, damit das Ergebnis gewollt erscheint und nicht nach defektem Objektiv aussieht.


Und nun?

IX. Wie geht es weiter?

Was mit einem Tilt-/Shift-Adapter und einigen alten MINOLTA-Objektiven begann, ist für mich nicht mehr aus meiner Art zu fotografieren wegzudenken. Alleine die Tatsache, dass das Bild im Moment der Aufnahme bereits fertig ist und keiner langwierigen Nachbearbeitung am Computer bedarf, ist von unschätzbarem Wert für mich. In einem Zeitalter, das von den Errungenschaften Künstlicher Intelligenz geprägt ist , muss man eigentlich nicht mehr vor die Tür gehen, um ein Bild zu machen.

Ansel Adams hat dazu gesagt: "You don't take an image, you make an image!" Mit Tilt-Shift-Objektiven macht man Bilder! Geht wieder mehr vor die Tür!


Zu den Tilt-/Shift-adaptierten Objektiven haben sich in meiner Fototasche mittlerweile zwei "richtige" Shift-Objektive gesellt. Ein "richtiges", "echtes" Tilt-/Shift-Objektiv für die Mittelformatkamera soll noch folgen. Ich bin immer noch ein Anfänger auf diesem Gebiet und lerne täglich dazu, aber immer öfter vermisse ich shift oder tilt, wenn sie mir einmal nicht zur Verfügung stehen.


Langsam wird mir klar: Ein Leben ohne Tilt-/Shift-Objektiv ist möglich, aber nicht lebenswert!