Bergsteigen - Litnisschrofen & Strindenschartenkopf

Eine Bergtour mit Umarmung

Zum Abschluss des Mai 25 wollte ich die Schwierigkeit unbedingt steigern. Nachdem ich am Vilser Kegel zu Beginn des Monats immerhin schon T3 erreicht hatte, sollte es nun etwas mit T4 werden. Die Überschreitung des Litnisschrofen schien dafür bestens geeignet. Am felsigen Gipfel warten ein paar Drahtseile und etwas Ausgesetztheit. Später, auf der anderen Seite des Litnisschrofen wartet dann noch ein T4- Abenteuer in einsamer Bergwelt auf mich. Wenn doch immer alles so schön sein könnte wie die Planung einer Bergtour!

Nun, im wirklichen Leben verläuft dann alles ganz anders. Das Leben ist einfach das schönste Abenteuer aller Abenteuer. Plötzlich wirst Du mitten in den Bergen umarmt, dann brechen die Schrofen unter Deinen Füssen weg und zum Schluss haut Dir eine Latschenkiefer mitten auf die Fresse. So schön kann Bergsteigen sein...

geografische Einordnung:


erreichte Gipfel:

weitere Wegepunkte:

Talort(e):


Schwierigkeiten:

Höhendifferenz Aufstieg/Abstieg:

Distanz:


Zeitbedarf inkl. Pausen:

Allgäuer Alpen


Litnisschrofen 2.069 m, Strindenschartenkopf 1.937 m

Gräner Ödenalpe, Strindenscharte

Haldensee


Wandern: T5       Klettern UIAA: I        Klettersteig: A         Schneeschuhe: -/-

1.107 m / 1.107 m

15,7 km


06h49m

Der Anfang ist harmlos. Eigentlich ist der Anfang aller großen Abenteuer immer harmlos. Und wenn dann die Spannung ganz plötzlich steigt, dann ist auch schon der Anfang des Abenteuers vorbei. Bis zum Ende des Anfangs dauert es heute immerhin noch zweieinhalb  Stunden. Zuerst der Hatscher über die Forststraßenschleife, dann der offensichtliche Abzweig in ein steiles Hochtal und dann tritt man bereits ins Licht der ersten Sonnenstrahlen. Alles, auch die ersten Blicke auf den Litnisschrofen, gestaltet sich noch eher ruhig und gemütlich. So gemütlich, dass ich den Abzweig zum Litnisschrofen nahe der Gräner Ödenalpe fast übersehe. Ein Hinweisschild gibt es dort nämlich nicht. Nur der deutlich sichtbare Weg und ein paar rote Punkte auf vereinzelten Steinen geben den weiteren Weg zum Gipfel vor. Nach dem Aufstieg über eine kleine Geländestufe sieht man dann auch schon auf das Gipfelkreuz des Litnisschrofen. Man quert nahezu eben unter dem Felsaufbau den Grashang. Zuletzt steigt man über eine breite Schuttreiße zu einem Felssporn und einer rechts davon nach oben ziehenden bröseligen Rinne auf. Hier beginnt das Drahtseil und das eigentliche Abenteuer kann beginnen.

Wenn es doch nur nicht so schnell vorbei wäre, das Abenteuer! Nach zehn Meter Drahtseil durch die Schuttrinne, wechselt man nach rechts über eine ebenfalls mit Drahtseil gesicherte Felsstufe. Im Zickzack geht es durch den griffigen und festen Fels schnell nach oben auf den Grat. Noch einmal Drahtseil, dann eine kurze Felsstufe (I) und der Rest zwischen dem Gipfel mit Trigonometrischem Punkt (TP) und dem Gipfel mit Gipfelkreuz wird zu einer Sache des aufrechten Ganges.

In Haldensee stand auf dem Schild dreieinhalb Stunden bis hierher. Ausgerechnet hatte ich zweidreiviertel Stunden und nun ist schon alles nach nur zwei Stunden und drei Minuten vorbei? Echtes Abenteuer muss sich doch anders anfühlen, oder? Mal sehen, was da noch kommt. Aber bevor ich sehe, schaue ich mir lieber noch die Berge an. Inneralpin liegt nach viel Schnee. Die nahe Leilachspitze gleich gegenüber könnte schon das nächste Abenteuer sein. Doch auch dort liegt überraschend viel Schnee. Aber was erwartest Du denn, Zing? Der 31.05., Ende Mai, da hat ja noch nicht einmal der Sommer begonnen!

Als schon der nächste Stresser mit Feldstecher auf dem Gipfel aufkreuzt, mache ich mich an den Abstieg, denn zur Überschreitung des Litnisschrofen gehört Mir fehlt noch der richtige Hüftschwung...


Unterhalb des letzten Felssporns biegt dann der Weg nach Südwesten mit einer einzelnen, kaum wahrnehmbaren Markierung in die Bergeinsamkeit ab. Zuerst säumen noch Latschen den Weg, dann jedoch wird die Landschaft zunehmend rauher. Man gelangt an den Rand des NW-seitigen Abbruchs unter dem Litnisschrofen. Ab nun führt der Weg einfach am Grat entlang und mich direkt in die Arme einer Frau. Eine Geschichte, wie sie nur das Leben schreiben kann. Hinter einer kleinen Kuppe treffe ich auf eine junge Frau. Beim ersten Wortwechsel kann ich jedoch dem Klang ihrer Stimme entnehmen, dass sie eine kleinere Krise durchlebt. 'Ob es noch schwerer würde' oder 'ob es da überhaupt weitergeht' fragt sie mich. Scheinbar muss es in der Richtung, aus der sie gekommen ist, recht bröselig zugehen. Ich kann Entwarnung geben, da es nun ja doch viel einfacher würde. Dann frag sie mich aber auch noch nach dem Litnisschrofen. Das kurze Stück ohne Drahtseil zwischen den beiden Gipfeln kann ich gerade noch so herunterspielen. Sie solle doch lieber erstmal was trinken und essen, dann sähe die Welt gleich viel rosiger aus, rate ich ihr. Sie will daann aber gleich an Ort und Stelle eine Pause machen. Das Risiko ist mir zu groß. Ich könnte nicht beruhigt weitergehen. Wer rastet der rostet und wer weiß schon, wie es ihr nach der letzten Hürde ergeht. Also schlage ich vor ein paar Meter mit ihr zurückzugehen, bis wir in einfacherem Gelände sind, und zwar jetzt sofort. So stapfen wir in Richtung Litnisschrofen.

Als der Weg wieder den Latschengürtel erreicht, ist meine Misson erfüllt. Von meinem Gegenüber scheint eine tonnenschwere Last abzufallen. Plötzlich ist die Stimmung aufgehellt. Und weil das so schön ist, möchte sie mich noch umarmen...

Wisst ihr wie das ist, wenn man eine Katze in der Tierarztpraxis aus dem Käfig bekommen möchte? Habt ihr schon einmal gesehen, wie die Katze dann das Fell aufplustert und plötzlich das Doppelte ihres ursprünglichen Volumens ausfüllt? So wie dieser Katze, oder dem Kater, geht es mir bei dem Angebot einer Umarmung, und dann auch noch von einer wildfremden Person!

Ich hatte dann aber gar keine Zeit, mich aufzupustern. Plötzlich war ich umarmt und habe selbst umarmt, mehr Rucksack als Frau, aber immerhin umarmt. Schön, dass man jemandem mit einer so geringen Tat eine so große Freude bereiten kann. Das Leben ist doch immer wieder ein Abenteuer...


Nach einem kurzen und schmerzlosen Abschied, aber von der Umarmung einer jungen Dame gestärkt, kann auch ich beruhigt den Weg in ein neues Abenteuer fortsetzen. Das Gelände wird tatsächlich rauher. Meist führen Spuren durch die Schutthänge zu meiner Rechten. An der scharfen Abbruchkante oben, zwischen Latschen und steilem Schutthang, ist jedoch auch immer ein Weg zu finden, der meist gar nicht so sehr aufregend ist. Ich schätze das alles mal auf T4-, also genau mein Tagesziel. Nach nur 60 Minuten seit dem Litnisschrofen - 40 Minuten nach der Umarmung - erreiche ich auch schon den tiefsten Punkt im Grat zwischen Litnisschrofen und Strindenschartenkopf. Hier weisen rote Punkte auf den möglichen und raschen Abstieg zurück nach Haldensee hin. Irgendwie hatte ich heute aber noch nicht genug. Nicht genug Abenteuer, nicht genug T4, nicht genug Bergerlebnis. Der nächste Aufschwung zum Strindenschartenkopf sieht doch noch ganz leicht aus. Warum also nicht bis zur Strindenscharte verlängern?


Was habe ich mich geirrt. Schon beim übernächsten Aufschwung bin ich mitten im Abenteuer. Latschgassen gibt es keine mehr. Der sichere Weg führt einzig über ein ca. 30 cm breites Grasband zwischen dichten Latschen auf der linken Seite und jähen Felsabbrüchen auf der rechten Seite. Die Latschen versuchen ständig mir die Beine wegzuziehen, während ich mich mit den Händen an ihre klebrigen Äste klammere. Noch einmal geht es in eine tiefe Scharte mit beeindruckendem Tiefblick zwischen den Beinen. Der nächste Kopf sollte dann doch schon der Strindenschartenkopf sein, oder?

Leider nein. Eine breite Latschengasse führt nun in den südseitgen Hang. Immer wieder versuche ich jedoch zurück zum Grat zu gelangen. Einmal biege ich scharf rechts ab, in eine unscheinbare Schneise, um dann zwar wieder den Grat zu erreichen, aber nur noch in den gähnenden Abgrund zu schauen. Also zurück zur offensichtlichen Latschengasse. Auch diese Latschengasse endet und gibt den Blick auf einen unüberwindbaren, südlichen Geländeausbruch frei. Dort ist keine offensichtliche Spur erkennbar. Umkehren? Nein, das kommt noch nicht infrage!

Das Navi sagt, dass ich mich wieder nach Norden orientieren muss und die Grathöhe erreichen soll. Über mir steht ein Felsturm. Rechts davon entdecke ich eine gangbare Schrofenverschneidung und bilde mir sogar ein, dort Begehungsspuren zu erkennen. Ein Stelle in dieser Verschneidung ist richtig schwierig. Ich müsste mit einem Schritt eine Stufe von ca. 90 cm Höhe überwinden. Der Griff, den ich dazu greifen könnte, ist lose. Einfach das Bein aus einem maximal spitzen Winkel wieder durchzudrücken erscheint mir unmöglich, besonders wenn ich mit den Händen nicht das Gleichgewicht stabilisieren kann. Dann verspreize ich mich an sehr kleinen Tritten in der Verschneidung, gewinne ein paar Zentimeter und kann mich auf den Händen aufstützen, anstatt den losen Griff auf Zug zu belasten. Ich freue mich. Die letzten Bouldersessions in der Halle tragen nun Früchte. Wie blöd ich wohl schauen werde, wenn ich oben feststelle, dass es dort gar nicht weitergeht...


Doch, es geht weiter. Hinter einem Latschenvorhang wartet eine weitere breite Gasse auf mich. Wie wäre man wohl ohne Klettereinlage hierher gelangt? Die beantwortung dieser rhetorischen Frage verschiebe ich auf ein anderes Leben. Jetzt muss ich zunächst mit Latschen kämpfen. Sie schlagen mir ins Gesicht, zwingen mich auf den Boden und spucken mir ihr klebriges Harz ins Gesicht. Warum habe ich heute Snowchains dabei jedoch keine Gartenschere?

Und dann erreiche ich endlich den namenlosen Vorgipfel des Strindenschartenkopfes. Die Freude währt nicht lange. Wie soll es von hier aus denn bloß weitergehen? Umkehr? Ich glaub ich kotz gleich in die Latschen! Ich erfinde Trittspuren, die mich wieder auf die Südseite führen. Nach wenigen Metern stehe ich dann doch nur wieder vor dem unüberwindbaren Ausbruch, den ich vorhin schon einmal gesehen hatte. Das Navi sagt auch, dass ich die Kammlinie lieber nach Norden verlassen solle, um in einem weiten Bogen wieder auf den Hauptgipfel aufzusteigen.

Was für ein Eiertanz! Der Brösel ist noch steiler als auf der anderen Seite. Feiner Split bedeckt loses Geröll. Ich taste mich vorsichtig zu einer kleinen Felsmauer hinab, erreiche eine enge Scharte und schaue wieder in den südseitigen Geländeausbruch. Nächster Versuch. Auf sehr losem, abschüssigen Untergund um einen Felssporn herum. Am Fuß des Felssporns entdecke ich ein Felsband, das sich recht sicher mit Hilfe von ein paar Untergriffen überwinden lässt, nur um dann wieder in einem noch bescheidenerem Schrofenhang auszulaufen. Zumindest ist da ein Ausweg aus diesem Abenteuer. Mir brechen noch zwei Mal Steine unter den Füßen aus, bis ich endlich ein sicheres Grasband erreiche. Ich brauche Wasser, viel Wasser, um mir die Angst aus der Mundhöhle zu spülen.


Hätte ich mich auf dieses Abenteuer besser vorbereiten können? Nun, im Internet gibt es Tourenberichte mit der Bewertung T4- von dieser Stelle. Alles Tiefstapler, tolle Hechte! Ein weiterer Bericht auf Bergfex erzählt hingegen von der Umkehr am Ende der breiten Latschegasse über dem großen Ausbruch. Der AVF berichtet lediglich vom unbedeutenden Strindenschartenkopf, der in nur zehn Minuten etwas ausgesetzt von der Scharte aus zu erreichen sei. Einzig die OSM bewertet den Weg über die Strindenschartenköpfe mit T5. Das trifft es ziemlich genau.

Das mit der unzureichenden Vorbereitung ist jetzt aber egal, ja sogar scheißegal, dann ab hier wird alles leichter. Die Schierigkeiten gehen ab Erreichen des Strindenschartenkopfhauptgipfels (wir Deutschen haben einfach die längsten ... Komposita) deutlich auf T3 zurück. Der Rest ist nur ein Hatscher über die Almstraße zurück nach Haldensee. Aber wer braucht schon nach so einer Umarmung des Todes noch mehr Abenteuer?


Zing • 31. Mai 2025