Hochtour Kuhscheibe
Ganz hinten auf der Liste
Nachts um 02:45 Uhr aufstehen und mich ungewaschen mit einem Becher Kaffee ins Auto zu setzen, das funktioniert nurmehr mechanisch. Nur gut, dass noch nicht so viel auf den Straßen los ist und man sich nicht so dolle konzentrieren muss. Die Fahrt nach Gries im Oetztal dauert ohne Mautstraßen 2:40 Stunden. Der Parkplatz hat ein Klo und ist mit 3,- EURO pro Tag geradezu ein Schnäppchen. Jetzt kann es dann auch endlich losgehen, auf die Kuhscheibe...
Die vielen Lkw auf der breiten Schotterstraße iritieren mich, nein, die fangen an zu nerven. Was bauen die denn da bloß? So langsam ärgere ich mich auch über die großen und lauten Maschinen sowie deren Fahrer. Die könnten mich ja schließlich mitnehmen. Aber auch so erreiche ich die Amberger Hütte zu Fuß nach nur 1:15 h. ich kann nur sagen: "Bloß schnell weg hier." Auf der benachbarten Baustelle beginnt es schon zu lärmen und irgendetwas stink hier ganz gewaltig, sei es der nahe gelegene Schwefelsee oder einfach nur die defekte Hüttentoilette...
Ich geh noch etwa 15 Minuten weiter taleinwärts, bis ich zu meinem Abzweig mit Wegweiser gelange. Hier mache ich eine ausgiebige Frühstückspause und fülle endlich die Wasserflaschen im Bach auf. Wo gehen die anderen alle hin? Aha, Hochstubai!
Vom Frühstücksplatz aus geht es über eine steile Geländestufe zuerst 300 Hm steil nach oben. Alles andere wäre auch Blödsinn. Unten am Abzwieg stehen noch zwei, gehen dann aber weiter in Richtung Hochstubai. Ich werde also allein sein auf dem Weg zur Kuhscheibe. Zumindest verirren kann man sich hier nicht. Alle zwei bis drei Meter klebt ein Farbklecks an einem Stein oder Felsen. Da müsste der Nebel schon sehr dicht sein, was heute kaum der Fall sein wird. So gestaltet sich der Weg bis zum Abzweig zur Kuhscheibe denn auch recht kurzweilig. Ich liege gut in der Zeit, was sich aber bald ändern könnte. Von den grünen Matten zwigt der Pfad zur Kuhscheibe in ein Geröllmeer ab. Das Erscheinungsbild der Berglandschaft wechselt schlagartig. Mitten im ersten Geröllaufschwung begegnet mir eine Gestalt. Zu einem freudigen Gesprächsaustauch kommt es dennoch nicht. Sein kehliges 'Hallo' könnte das eines Holländers sein. Seine Hosenbeine sind triefend nass!
Mir fällt auf, dass der Untergrund seltsam sumpfig ist. Der Sand zwischen dem Geröll gibt beim Auftreten deutlich nach. Als ich den oberen Rand der nächsten Geröllwelle erreiche, wird mir auch klar warum. Hier taut Schnee vor sich hin und sein Schmelzwasser kann nicht abfließen. Der gesamte Geröllhang wird aufgeweicht. Die Spur des wortkargen Holländers verät nichts Gutes. Ständiges und unvermitteltes Einbrechen bis zum Knie muss man heute aushalten können. Warum habe ich heute eigentlich keine Gamaschen dabei?
Am unteren Rand des Roßkarferners. Die Spur des Vorgängers zieht steil und auf direktem Weg nach oben zum Gipfel. Außerdem schaut die Spur sehr löchrig aus. Ich folge diesem Sumpfpfad nur wenige Meter und entwerfe dann eine andere Strategie. Weiter links blitzt Eis durch die faulige Schneedecke. Ich lege die Steigeisen an, um im Zickzack über den zahmen Gletscher aufzusteigen. Noch 200 Hm bis zum Gipfel. Das sollte in einer halben Stunde zu machen sein, oder?
Nein, leider nicht. Die Idee mit dem Gletscher war nicht schlecht, aber die Idee endet ebenso abrupt wie die löcherige Spur meines Vorgängers an einer Felseninsel unterhalb des Gipfelgrats. Hier hat jemand aufgegeben und ich verstehe auch seine Beweggründe dafür. Das Gelände wird hier steil (>30°) und ein Quergang in gefrorenem Schnee wäre nur mit entsprechender Ausrüstung zu bewältigen. Die hat ihm möglicherweise gefehlt. Durch die Erwärmung im Tagesgang hat sich nun auch noch eine knietiefe Schmodderschicht gebildet, die nicht dazu geeignet ist, ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Warum habe ich heute eigentlich keine Gamaschen ... ? Aufgeben ist trotzdem nicht!
Je näher ich an die felsige Gratlinie gelange, desto schlechter wird der Schnee. Wenn man nun einbricht, muss man darauf achten, sich nicht an den unter dem Schnee versteckten Blöcken und Steinen zu verletzen. Wenn man einmal bis zur Hüfte im Schnee eingerochen ist, dann ist einem eh alles egal...
Endlich Blockgrat, vielleicht noch 10 Minuten, und dann erreiche ich den Gipfel. Was für eine Erlösung. Dieses Gefühl hier stehen zu dürfen, ersetzt jeden Zorn und Fluch der vergangenen Stunde. Nachdem ich zweimal um die eigene Hochachse rotierend das Panaorama fotografiert habe, ist endlich die Zeit für eine Pause gekommen.
Gerne wäre ich länger geblieben. Die Schneeauflage wird jedoch kaum fester werden. Um noch halbwegs sicher absteigen zu können, muss ich jetzt aufbrechen. Gerade noch eine gute Entscheidung. Als der Eispickel bis zur Haue in den Schnee eintaucht und ich nicht mehr weiß, wie ich aus dem Schnee, der mir bis zum Bauchnabel reicht, herausfinden soll, wird mir schlagartig klar, dass dieser Abstieg noch etwas Zeit beanspruchen könnte. Irgendwann breche ich ein und stoße mir das rechte Schienenbein an. Das wäre schon ein Beinbruch, ist es aber glücklicherweise nicht. Die bunten Farben werden mich noch länger an dieses Abenteuer erinnern.
Nachdem nun meine geniale Spur auch zu einer Lochreihe wird, neige ich weiter unten wieder meehr in Richtung des Roßkarferners. Das Eis trägt mich so schön. Allerdings hört man unter der Eisfläche das Schmelzwasser in Strömen dahinfließen. Einbrechen will ich hier auf keinen Fall. Also wieder mehr in den sulzigen Schnee und weg vom Eis. Mann, was freue ich mich auf die weiten Geröllfelder...
Es ist jetzt schon halb zwei Uhr, als ich auf zwei weitere Bergsteiger treffe, die gerade absteigen. Wie lange es von hier noch zum Gipfel gedauert hätte (ca. 1,5 h), fragen sie. Sie bereiten sich auf den E5 im nächsten Jahr vor. Heute sind sie um 08:15 Uhr in Gries aufgebrochen. Die Tour haben sie mit Komoot geplant. Sie haben einen Kocher dabei, aber keine Steigeisen. Was für Ossis!
Ich schaue mir die Baustelle nahe der Amberger Hütte genauer an. Hier wird ein Wasserschloss(?) gebaut? Hä? Das muss ich recherchieren.
Alles hängt mit dem Speicher Kühtai zusammen. Aber der ist doch so weit weg im Norden? Nun, durch die gesamten Stubaier Alpen wird ein Stollen mit einem Durchmesser von vier Metern getrieben. An bestimmten Stellen wird Wasser aus Bächen abgezweigt und über viele Kilometer in den Speicher Kühtai geleitet. Nachzulesen hier und hier.
Wie gut nur, dass ich heute noch auf der Kuhscheibe gewesen bin, denn schöner wird's nicht. Haken dran oder durchstreichen? Tatsächlich Haken, weil das im Winter eine schöne Schneeschuhtour sein könnte.